Da kommt er wieder. Ich sitze am Schreibtisch und nehme die Bewegung da unten aus dem Augenwinkel war. Eine schmale Gestalt, billige, verschlissene Kleidung, abgelatschte Turnschuhe, dünnes, strähniggraues Haar. Schnellen Schrittes, eine zerknitterte, fast leere Tüte in der linken Hand. Er bewegt sich an der Wand der Stadtbibliothek entlang, bleibt bei der letzten Säule der Arkaden stehen und blickt sichernd über die freie Fläche des Rathausmarkts. Biegt dann steil nach links ab, sechs Meter, dort liegt das erste Objekt seiner Begierde. Eine kurze Inspektion, dann muss er weiter. Von dort aus verlässt er den schützenden Bereich des großen Gebäudes, läuft fast zehn Meter diagonal über die Freifläche, das Teil auf dem Kinderspielplatz ist sein nächstes Ziel. Jetzt ist er näher heran, ich kann sein Gesicht bei der Inspektion sehen, erkenne die Enttäuschung darin. Auch hier ist nichts zu finden. Weiter also, immer dicht an einer Hauswand entlang, wo immer das möglich ist. Nach rechts abbiegen, dort findet sich das dritte Teil, gerade eben noch in meinem Gesichtsfeld.
Dort wird er endlich fündig. Ein angedeutetes Lächeln huscht über sein reichlich verlebtes Gesicht während er sich bückt und mit der nackten Hand tief in den Schmutz eines überquellenden Mülleimers greift. Er richtet sich auf, dreht eine kleine Pfandflasche im trüben Licht des Tages hin und her, als sei sie ein wahrer Schatz. Schließlich lässt er sie vorsichtig in die zerschlissene Alditüte in seiner anderen Hand gleiten. Ein erneuter, scheuer Rundumblick, dann läuft er weiter, zweifellos, um andere Mülltonnen in der Gegend abzupatrollieren.
Sie sind Mehrere, die da sammeln. Fünf oder Sechs sehe ich immer wieder, mal ein paar mehr, mal weniger. Eine Zeitlang war auch eine Frau dabei, aber sie ist schon länger verschwunden. Sie kommen alle zu unterschiedlichen Zeiten, versuchen stets unauffällig zu sein und sind immer auf der Hut. Vor der Ordnungsmacht, sicherlich, besonders aber vor anderen Sammlern, denn sie stehen miteinander in einem harten Wettbewerb um die nur beschränkt zur Verfügung stehenden Ressourcen. Treffen sie – trotz aller Vorsicht – doch einmal aneinander, wird die vermeintliche Reviergrenze und die zweifellos in diesen Kreisen herrschende Hierarchie mit lauter Stimme, Drohgebärde und – gar nicht so selten – auch ganz handfest mit der Faust durchgesetzt.
Diese Menschen, die da unterwegs sind, sind die wirklichen „Loser“ der Gesellschaft. Hinten runtergefallen, nie wirklich teilgehabt am großen Kuchen. Den Hintern nicht an die Wand bekommen. Keine echte Ausbildung, jahrelang ohne Arbeit in einem eher strukturschwachen Gebiet. In dritter Generation Sozialhilfeempfänger, ohne jede Perspektive und, vor allem: ohne echte Hilfe. „Prekariat“ – diesen widerlich-menschenverachtenden Ausdruck hört man oft in diesem Zusammenhang. Aber auch das gehört in dies Bild: dreißig Jahre gearbeitet, das eigene Geschäft. Darüber zu früh zu krank geworden, pleite gegangen. Eine Scheidung. Alleinerziehend. Über die Jahre einen ganzen Schock Kinder groß gemacht, dafür zu Hause geblieben. Eine Rente, die zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel ist. Die am 15. des Monats bei allem Sparen, aller Einschränkung einfach verbraucht ist.
Kaum zu glauben, dass sich jemand freiwillig in diesem Umfeld bewegt und sich den damit verbundenen Gefahren und Erniedrigungen aussetzt. Und doch scheinen das gar nicht so wenige zu glauben. Sie sind es dann auch, die in ihrer gefühlten Überlegenheit noch möglichst hart hinterher treten: „Die sollten mal lieber Arbeiten.“ „Sauf nicht soviel, dann geht’s dir auch besser“! Sie werfen abfällige Blicke, wenn sie zufällig auf einen der Papierkorbinspektoren treffen, Pöbeln und Rempeln. Lassen den derben Spruch im Vorbeigehen. Die Anmache im Supermarkt: „Eure Buddeln tauscht ihr aber woanders um!“ Das Lachen. Die „Verarsche“. Sie nehmen dem Anderen seine Würde. Bewusst und mit voller Absicht. Um sich besser zu fühlen als „die da“. Alles schon miterlebt, mit angehört, angesehen. Hier, in unserer Stadt, wohlgemerkt. Nein, unsere kleine Stadt ist kein „sozialer Brennpunkt“. Aber es gibt sie auch hier, die Ränder der Gesellschaft. Und, man merke auf: sie werden deutlich breiter!
Wir werden daran kaum wirklich etwas ändern. Es fehlen die Mittel und die Möglichkeiten. Wobei das in einem Land wie dem unseren und den ungeheuren Summen die wir für andere Dinge einsetzen, eigentlich kaum vorstellbar sein sollte. Und die breite Unterstützung zu einer Änderung, so fürchte ich zumindest, sie fehlt auch.
Ich habe – nur für mich – beschlossen, wenigstens etwas gegen die Würdelosigkeit zu tun. Denn ich denke, dass im reichsten Land Europas kein Mensch aus was für einem Grunde auch immer in einer vollen Mülltonne wühlen müssen sollte.
Und so werde ich meine Pfandflaschen – in den seltenen Fällen, wo ich sie wegwerfe – neben die jeweilige Tonne stellen. Dort, wo sie zu sehen ist. Wo sie jemand mitnehmen kann, ohne im Abfall zu wühlen. Jemand, der sie braucht. Lächerlich, klar. Eine Kleinigkeit ohne Einfluss auf das Leben der Betroffenen. Was für ein Quatsch. Spinner.
Und trotzdem. Würde kann man nicht kaufen. Man sie jemandem nehmen. Sie ihm absprechen. Das ist einfach. Sie ihm aber auch geben. Das ist gar nicht so schwer. Kostet nichts und ist vielleicht ein Anfang. „Wenn viele Menschen viele kleine Dinge tun, dann kann daraus etwas sehr Großes werden.“
Da ist was dran.
Wie wärs, macht ihr mit?
Ich behaupte nicht, dass es die Pflicht des Staates ist, sich ausschließlich derer anzunehmen, die es alleine nicht schaffen.
Aber.
Der Staat hat genug. Die Reichen haben genug. Mehr als das.
Wir alle haben genug.
Und allen voran, der Staat.
Er kann geben.
Aber er weigert sich.
Weil es wichtigeres gibt. Scheinbar.
Weil das Wohl des Einzelnen dem Staat vollkommen gleichgültig ist.
Weil der Staat nur noch jammert, das er nichts hat.
Wir sind ein Volk ohne Staat. Wenn es um die Pflichten des Staates geht.
Da existiert er nicht.
Leider.
Leider.
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Mit dem „genug haben“ stimme ich dir zu. Den Rest sehe ich ein wenig anders. „Der Staat sind wir.“ Das ist nur ein wenig verloren gegangen in den Köpfen der Menschen. In ihrem „Wollen“. Aber: „Wenn viele Menschen viele kleine Dinge tun …“ dann ändert sich auch das wieder. Ganz sicher! 🙂
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Was Du sagst, stimmt. Aber wenn soll ich bitte wählen, der sich der Armen annimmt? Warum bleibt der Staat da außen vor? Dem Wohle des Volkes.. Gehört man, wenn man arm ist, nicht mehr dazu?
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Hier in Hamburg werden gerade die öffentlichen Mülleimer für ein Schweinegeld in hochtechnisierte, automatisch verschließende Varianten ausgetauscht. In denen kann kein Mensch mehr nach irgendetwas suchen. Hat sich angeblich keiner was Böses dabei gedacht, sagt die Stadt….
Ja, Flaschen daneben stellen. Auf jeden Fall.
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Ja, ich las davon. Das zusammen mit meinem Erleben gab den Ausschlag zu meinem Geschreibsel. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Keine Flaschen, keine „Asozialen“, Problem gelöst. Passt irgendwie in den 4-Jahres-Wahlhorizont von gewissen Politikern …
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Das http://foodandwineporn.de/2013/08/29/tote-stadt/ ist das, was München aus dem Stachusuntergeschoss gemacht. Eine tote Zone. Früher waren da Obdachlose, Stricher, Punks, was weiß ich. Kein Drama da durch zu gehen, man hatte etwas Kleingeld in der Tasche und es sicher keinem Verkehrtem gegeben. Seit langem sind sie aus dem Untergeschoss verbannt, raus aus dem Stadtkern… Aus den Augen, aus dem Sinn…
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Ich kann mich gut erinnern, daß ich vor 11,12, Jahren mit einem Freund in einer der Außenlokalitäten der Reeperbahn saß und wir damals erstmalig überrascht feststellten, dass immer mehr Leute damit begannen, den Müll nach Pfandflaschen zu durchsuchen. Es war ein völlig neues, erschreckendes Bild für uns. Mitten auf dem Kiez war das überraschend…. Und dass es nicht nur Obdachlose waren, sondern die Unterschicht, die ihre Armut bis dato nicht offen gezeigt hätte.
Und was haben wir heute? Eine gigantische Altersarmut, Mittelschicht-Familienväter mit 3 Jobs, 42 % der Alleinerziehenden und ihre Kinder existieren von Hartz4 weil sie keine ordentlichen Arbeitsstellen bekommen. Das sind 1,7 Millionen! Die gesellschaftlich und steuerlich immer noch als Minderheit behandelt werden. Und als Unterschicht. Obwohl sie aufgrund ihrer Bildung nicht daraus stammt. Armut ist Standard geworden. Nicht nur offensichtlich auf der Straße. Aber man spricht nicht darüber. Dafür geistern plakative Sätze wie „Nehmt doch mal Euer Leben in die Hand“. Das ist alles ziemlicher Hohn.
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Das funktioniert aber alles nur, solange man die Leute auseinanderdividieren kann. Abstiegsgefährdete Mittelschicht gegen Arme. Kreditfinanzierte Häuslebesitzer gegen „Sozialschmarotzer“. Wer auf der sozialen Leiter ein bisschen höher angesiedelt ist, tritt nach Unten und bekommt dafür Applaus von Oben. Brot & Spiele. Die Geschichte zeigt, dass solche Systeme irgendwann kollabieren …
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